Titel
Geschlechtercodes und religiöse Praxis. Arabische Christinnen zwischen patriarchaler Leitkultur und Selbst-Autorisierung


Autor(en)
Winkel, Heidemarie
Reihe
Religion in der Gesellschaft, Bd. 25
Erschienen
Würzburg 2009: Ergon Verlag
Anzahl Seiten
292 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Thuselt, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Erlangen-Nürnberg

Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um eine soziologische Habilitationsschrift, deren Zielgruppe eindeutig im akademischen Bereich zu suchen ist. Die Autorin versteht ihre Arbeit selbst als Studie zur Soziologie arabischer, nicht primär islamischer Gesellschaften. Diesem Anspruch wird sie im Verlauf der Arbeit durchaus gerecht, stößt allerdings auch an Grenzen.

Die Arbeit will die religiös begründete Selbstreflektion der sozialen Rolle arabischer Frauen, hier: Christinnen, am Beispiel der christlichen Weltgebetstagsbewegung darstellen. Das Thema besticht dadurch, dass eben diese Bewegung Frauen, auch in einer patriarchalischen Umgebung die Möglichkeit einer eigenständigen Gestaltung sozialer Praxis einräumt. Zum anderen erlaubt die Erfahrung anderer Sozialformen und Theologien im Rahmen der christlichen Ökumene das bewusste Erkennen und Reflektieren der eigenen Situation.

Winkels Analysen fußen theoretisch ganz maßgeblich auf den Werken Eisenstadts und dessen „multiplen Modernitäten” 1 sowie auf Luhmanns Begriff des „Commitment” 2. Letzterer behauptet, dass mit dem 19. Jahrhundert religiöse Selbstidentifikationen brüchig geworden seien und deshalb religiöse Identitäten nunmehr aktiv hergestellt werden müssten (S. 23f.). Ausgehend von ihrem Material behauptet die Autorin dieses auch für die arabischen Gesellschaften, zumal für die orientalischen Christen. Ihr Material gibt hierzu jedoch nur begrenzt Veranlassung. Es ist zu fragen, inwieweit die Auswahl der Interviewten – dezidiert engagierte arabische Christinnen – überhaupt solche Schlüsse zulässt. Die Persistenz traditioneller Legitimationen auch in den vorliegenden Interviews macht dies deutlich Die Frage nach der Tiefenwirkung dieses nur in Teilen der arabischen Gesellschaften beobachtbaren gesellschaftlichen Wandels findet leider keinerlei Beachtung. Zumal die Autorin selbst feststellt, dass der soziale Wandel die sozialen Basisinstitution der Verwandtschaftsbeziehung auf patriarchalischer Grundlage unbeschädigt gelassen habe (S. 24).

Im weiteren Verlauf der Arbeit stellt Winkel auf hohem soziologischem Niveau die Besonderheiten (nicht nur) des orientalischen, sondern vor allem des traditionellen Individualitätsverständnisses heraus, indem sie, aufbauend auf Suad Josephs Begriff der „relational connectivity“ 3 feststellt, dass ein solches Selbstverständnis nicht auf primär individueller Lebensführung, sondern auf der Einordnung in einen patriarchalisch dominierten Gruppenrahmen beruht. Das Leben von Araberinnen werde dabei, so die Folgerung, aber nicht primär von Religion dominiert, sondern von anderen „Erwartungs- und Deutungsstrukturen, (...) die ihrerseits bis in die Religion hineinreichen“ (S. 27).

Hiervon ausgehend, stellt Winkel fest, dass Patriarchalismus kein genuin islamtypisches Phänomen darstellt, sondern auch im orientalischen Christentum vorhanden ist. Er sei auf strukturelle Gründe zurückführbar (S. 104). Bei der Ausführung dieser an sich richtigen Analyse bewegt sie sich jedoch leider nicht immer auf sicherem Terrain, etwa wenn sie versucht, die „neopatriarchy“-Theorie Hisham Sharabis 4 aufzugreifen. Bei diesem Versuch behauptet sie etwa, die ökonomische (kapitalistische) Moderne habe durch den Niedergang der Subsistenzwirtschaft auch zum Ende der bäuerlichen Familie als Produktionseinheit geführt. Erst dadurch sei die arabische Frau des ländlichen Raumes endgültig an den heimischen Herd verdrängt worden, da in der Exportindustrie nur mehr Männer arbeiteten (S. 104). Schon ein einfacher Blick auf die ruralen Näherin oder die Arbeiterinnen auf den Feldern der exportorientierten Landwirtschaft des Orients hätte sie da eines besseren belehren können. Deshalb gelingt es Winkel leider nicht, diese These stichhaltig zu belegen. Dies ist jedoch nicht zentral für ihre Arbeit.

Deutlich gelungener ist ihre Darstellung der westlichen Betrachtung der Geschlechterrolle der arabischen Frau als „orientalistischer Diskurs“. Sie stellt ausführlich dar, in welchem Maße die orientalische Frau hierbei als Antipodin zur westlichen Frau konstruiert wurde, ohne dass der Tatsache Rechnung getragen worden wäre, dass ganz unterschiedliche orientalische, auch islamische, Traditionen bestehen. Aber auch, dass stets Möglichkeiten der aktiven Beteiligung arabischer Frauen am sozialen Leben existierten. Letzteres allerdings nur im Rahmen einer männlich dominierten Sozialordnung und unter Rezeption eines aus Europa und Amerika aktiv vermittelten universalistischen Gleichheitsanspruches. Vor dem Hintergrund des westlichen Anspruches einer kulturellen Hegemonie würde insofern auch jede Frauenbewegung im Orient nie ohne Rückgriff auf die islamische Kultur auskommen. Hierbei würden Auffassungen wie die der unterschiedlichen „Natur“ der Geschlechter nicht grundsätzlich in Frage gestellt, sondern nur anders gedeutet (S. 117).

Allerdings stellt dieser recht ausführlich gehaltene Exkurs in die Debatte um die Stellung der Frau in arabischen Gesellschaften durchaus auch eine Schwäche des Bandes dar. Obwohl nachvollziehbar und im großen und ganzen auch schlüssig argumentiert wird, ist die Überleitung zum eigentlichen Thema des Bandes noch zu gering ausgeprägt. Zwar ist die Absicht der Autorin zu erkennen, zeigen zu wollen, dass auch Christinnen im Orient patriarchalisch dominiert werden, es sich somit nicht um ein genuin islamisches Phänomen handelt, dennoch lässt der Exkurs Fragen offen. Der Versuch eine generelle Dominanz patriarchalischer Leitkultur darlegen zu wollen und dies mit der in einer breiten Öffentlichkeit geführten Debatte um das Frauenbild des Islams zu verbinden, provoziert die Frage, warum bei einer solchen Zielsetzung nicht die Arbeit muslimischer Organisationen untersucht wurde. An dieser Stelle schweift die Arbeit ein wenig ab. Die Relevanz der tatsächlich untersuchten Gruppe hätte hier im Zusammenhang mit der Frage nach der Übertragbarkeit der Ergebnisse beantwortet werden müssen. Dies geschieht jedoch nur im Rahmen allgemeiner struktursoziologischer Betrachtungen. Aber dieser Mangel kann den Stellenwert des erhobenen Materials an sich nicht mindern.

Dieses beruht auf mit den Mitteln der „Grounded Theory“ generierten Einzelfallanalysen. Grundlage bildeten qualitative, narrative Interviews mit in der Weltgebetstagsbewegung engagierten arabischen Christinnen. Vier Fallbeispiele werden ausführlich dargelegt. Leider wird nicht ausgeführt, wie viele Interviews insgesamt geführt wurden oder welche soziostrukturellen Merkmale die Befragten aufweisen. Die von Strübing 5 oder Steinke 6 geforderten Gütekriterien Qualitativer Sozialforschung hätten dies jedoch zumindest wünschenswert gemacht. Dies ist jedoch nur ein leichter Mangel. Was die aufbereiteten Interviews, wie von der Autorin behauptet (S. 28, 182f.), beispielhaft macht, wird nicht genauer geschildert, hätte jedoch, vor allem vor dem Hintergrund des Bildungsstatus der Interviewten, einer etwas kritischeren Einordnung bedurft.

Die trotz dieser Mängel sehr umsichtige Analyse Winkels kann insgesamt zeigen, dass die Diskussion über die Rolle der arabischen Frau im christlichen Kontext eine indigene, eigenständig geführte Debatte ist, die sich aus der lokalen Situation speist, aber von internationalen Verflechtungen beeinflusst wird. Wiewohl der Weltgebetstag ursprünglich aus der amerikanischen Missionsbewegung entstand, wird er über diese situationsspezifische Einbettung gewissermaßen „indigenisiert“. Die befragten Frauen nehmen dabei die strukturelle Begrenztheit ihres eigenen kirchlichen Handelns durchaus kritisch wahr. Gleichzeitig verbleiben sie jedoch im Rahmen der „connective selfhood“ (Suad Joseph), indem sie ihre eigene Stellung prinzipiell zuerst aus der Loyalität zur eigenen Gruppe (‘asabiyyah) und der Verbindlichkeit der von Autoritäten bestimmten Traditionen ableiten. Individuelle Handlungsmotive werden dabei dem Anspruch der eigenen Gruppe untergeordnet. Es sind aber auch Ansätze des Auslotens von sozialen Grenzen erkennbar. Diese über die aktive Ausgestaltung des Weltgebetstages ermöglichte explizite Auseinandersetzung mit der Wirkmächtigkeit sozialer Rahmenbedingungen herauszuarbeiten, kann als Anliegen der Arbeit gelten. Dieses Resultat, macht auch den eigentlichen Stellenwert der Arbeit aus. Winkel gelingt es die Relevanz und Persistenz traditionell autoritärer Rollenzuschreibungen aufzuzeigen. Die sorgfältige und soziologisch fundierte Analyse des erhobenen Materials kann die im vorangegangenen Diskurs aufgetretenen Mängel durchaus wieder wettmachen.

Durch den Umgang mit qualitativ erworbenem Material stellt die Arbeit tatsächlich durchaus einen wichtigen Beitrag zur Debatte um die soziale Stellung arabischer Frauen dar. Die Empirie erlaubt einen tiefen Einblick in das behutsame Abtasten der eigenen Handlungsspielräume. Die Rückkopplung an einen insgesamt zu breit angelegten Exkurs zur generellen sozialen Situation zeitgenössischer Araberinnen gelingt jedoch durch die vorliegende Fallauswahl nicht immer im gewünschten Maße.

Anmerkungen:
1 Vor allem Samuel N. Eisenstadt, Tradition, Wandel und Modernität, Frankfurt am Main 1979; ders., Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000; ders., Comparative Civilisations and multiple Modernities, 2. Bde, Leiden 2003.
2 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt am Main 2000, S. 292.
3 Suad Joseph (Hrsg.), Intimate Selving in Arab Families. Gender, Self, and Identity, Syracuse 1999, S. 11f.
4 Hisham Sharabi, Neopatriarchy. A Theory of Distorted Change in Arab Society, Oxford 1988.
5 Jörg Strübing, Grounded Theory. Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung, Wiesbaden 2004, S. 75-89.
6 Ines Steinke, Gütekriterien qualitativer Forschung, in: dies. / Uwe Flick / Ernst von Kardorff (Hrsg.), Qualitative Sozialforschung. Ein Handbuch, Reinbek 2000, S. 319-331.

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